Quelle: Human Rights Watch: https://www.hrw.org/de/news/2022/08/11/afghanistan-talibans-catastrophic-year-rule
New York – Die Taliban haben zahlreiche Versprechen gebrochen, wonach sie nach ihrer Machtuebernahme in Afghanistan vor einem Jahr die Menschenrechte und die Rechte von Frauen achten wuerden, so Human Rights Watch heute. Neben anderen Rechteverletzungen haben die Taliban-Behoerden seit der Einnahme von Kabul am 15. August 2021 die Rechte von Frauen und Maedchen stark eingeschraenkt, Medien unterdrueckt und Kritiker*innen und vermeintliche Oppositionelle gefoltert und hingerichtet.
Die Menschenrechtsverletzungen der Taliban wurden weltweit verurteilt und haben die internationalen Bemuehungen zur Verbesserung der katastrophalen humanitaeren Lage im Land gefaehrdet, so Human Rights Watch. Der Zusammenbruch der Wirtschaft ist groesstenteils darauf zurueckzufuehren, dass andere Staaten ihre auslaendischen Hilfen gekuerzt und internationale Finanztransaktionen erschwert haben. Mehr als 90 Prozent der Menschen in Afghanistan sind seit beinahe einem Jahr von Ernaehrungsunsicherheit betroffen, weshalb Millionen von Kindern mit akuter Mangelernaehrung und der Gefahr langfristiger Gesundheitsprobleme zu kaempfen haben.
„Die afghanische Bevoelkerung erlebt einen Menschenrechtsalptraum und ist Opfer sowohl der Grausamkeit der Taliban als auch der Apathie der internationalen Gemeinschaft“, sagte Fereshta Abbasi, Researcherin fuer Afghanistan bei Human Rights Watch. „Sollten sich auslaendische Regierungen – bei gleichzeitigem Pochen auf die Einhaltung der Menschenrechte – nicht aktiver um einen Umgang mit den Taliban-Behoerden bemuehen, sieht die Zukunft Afghanistans trostlos aus.“
Seit der Machtuebernahme haben die Taliban Regeln aufgestellt, die Frauen und Maedchen weitreichend davon abhalten, ihre grundlegendsten Rechte auf Meinungsaeusserung, Bewegungsfreiheit und Bildung auszuueben, und die zudem andere Grundrechte beeintraechtigen, wie etwa das Recht auf Leben, Lebensgrundlage, Gesundheitsversorgung, Nahrung und Wasser. Die Taliban haben es Frauen verboten, ohne Begleitung eines maennlichen Familienangehoerigen zu reisen oder an ihren Arbeitsplatz zu fahren – eine Anforderung, die in den meisten Familien schlicht nicht umsetzbar ist – und haben zudem viele Arbeitsplaetze fuer Frauen gesperrt. Ausserdem haben die Taliban den meisten Maedchen den Besuch einer weiterfuehrenden Schule verwehrt.
Die verheerende Menschenrechtsbilanz der Taliban sowie ihre Weigerung, sich ernsthaft mit internationalen Finanzinstitutionen auseinanderzusetzen, haben ihre Isolierung weiter vertieft, so Human Rights Watch. Auslaendische Regierungen sollten ihre Beschraenkungen fuer das afghanische Bankwesen lockern, um legitime Wirtschaftsaktivitaeten und humanitaere Hilfe zu erleichtern. Die Taliban sollten wiederum Rechteverletzungen einen Riegel vorschieben und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.
„Die Taliban sollten dringend ihre schreckliche und frauenfeindliche Entscheidung revidieren, Frauen und Maedchen den Zugang zu weiterfuehrenden Schulen zu verwehren“, sagte Abbasi. „Damit wuerden die Taliban ein Zeichen setzen, dass sie bereit sind, ihre schwerwiegendsten Massnahmen zu ueberdenken.“
Viele Regierungen haben die Entscheidung der Taliban angeprangert oder kritisiert, die Bildung von Maedchen einzuschraenken, darunter der gesamte UN-Sicherheitsrat sowie beinahe alle Mitglieder der G7 und der G20. Keine Regierung hat die Position der Taliban verteidigt oder zu rechtfertigen versucht.
Im Laufe des vergangenen Jahres hat Human Rights Watch eine Reihe von Pressemitteilungen und Berichten zu den Menschenrechtsverletzungen der Taliban und ein aktualisiertes Dokument mit Fragen und Antworten zur allgemeinen humanitaeren und wirtschaftlichen Krise in Afghanistan veroeffentlicht sowie Empfehlungen dazu, wie sich die Lage verbessern liesse. Dazu gehoert auch, die Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban zu unterstuetzen, damit afghanische Buerger*innen legitime wirtschaftliche Aktivitaeten aufnehmen koennen.
Der US-Luftangriff vom 30. Juli, bei dem Al-Kaida-Anfuehrer Ayman al-Sawahiri getoetet wurde, scheint die laufenden Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban nicht beeintraechtigt zu haben. Beide Seiten sollten weiterhin dringlich daran arbeiten, zu einer Einigung zu gelangen, die es moeglich macht, die Wirtschaftskrise des Landes zu bewaeltigen.
Obwohl in Maerkten im ganzen Land Nahrungsmittel und Grundversorgungsgueter erhaeltlich sind, ist in ganz Afghanistan akuter Hunger verbreitet, sagte Human Rights Watch. Beinahe 20 Millionen Menschen – die Haelfte der Bevoelkerung – leiden unter Ernaehrungsunsicherheit der Stufen 3 „Krise“ oder der Stufe 4 „Notfall“ gemaess des Bewertungssystems des Welternaehrungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP). Mehr als eine Million Kinder unter fuenf Jahren – deren Leben bei Nahrungsmangel besonders gefaehrdet ist – leiden unter andauernder akuter Mangelernaehrung. Das WFP berichtete im Juni, dass Zehntausende Menschen in der Provinz Ghor eine Ernaehrungsunsicherheit der Stufe 5 „Katastrophe“ erreicht haben, die den Beginn einer Hungersnot markiert.
Allgemein sind Menschen in Afghanistan seit letztem August von verschiedenen Formen von Ernaehrungsunsicherheit betroffen, weshalb sie Mahlzeiten auslassen, ganze Tage nichts essen oder auf extreme Bewaeltigungsmechanismen zurueckgreifen, um fuer Nahrung zu bezahlen. Darunter faellt zum Beispiel, dass Kinder zum Arbeiten geschickt werden.
Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf Frauen und Maedchen sind besonders gravierend, da diese es immer schwerer haben, Zugang zum Sozial- und Gesundheitssystem zu erlangen.
Die humanitaere Situation waere sogar noch dramatischer, haetten die Vereinten Nationen und andere humanitaere Organisationen ihre Aktivitaeten in 2022 nicht massiv ausgeweitet, so Human Rights Watch.
„Nach einem Jahr an der Macht sollten die Taliban-Anfuehrer die Katastrophe anerkennen, die sie geschaffen haben, und beim Thema Rechte eine Kurswende vornehmen, bevor noch mehr Afghan innen darunter leiden und weitere Leben verloren gehen“, sagte Abbasi.